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Bielefeld im Schatten der ‚Tüte‘: Wenn Leben zwischen Drogen, Obdach und Hoffnungslosigkeit zerbricht

today29. Juli 2025 5

Hintergrund
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Einst nur ein stiller Knotenpunkt in Ostwestfalen, heute ein Ort, an dem die Risse in der Gesellschaft offen zutage treten. Rund um den Stadthallenpark – den viele nur noch „die Tüte“ nennen – hat sich in den letzten Jahren eine Szene gebildet, die Bielefeld verändert hat: drogenabhängige, wohnungslose und traumatisierte Menschen, die hier zwischen Hoffnung und Untergang leben.

Was sich in Bielefeld zeigt, ist längst kein lokales Problem mehr. In ganz Deutschland wächst die Zahl der Menschen, die durch das soziale Raster fallen. Die Statistik zeigt: Mehr als 400.000 Menschen sind wohnungslos, über 60 % von ihnen leiden an einer Suchterkrankung. Und die Zahl steigt.


Die Realität: Drogen, Elend, Einsamkeit

Die Szene in Bielefeld hat sich sichtbar ausgedehnt. Was früher an den Rand gedrängt war, ist heute mitten im Stadtbild angekommen – am Hauptbahnhof, am Kesselbrink, in Unterführungen, auf Parkbänken.

Ein Mann sitzt mit gesenktem Blick an der Bahnhofsunterführung. Die Kälte ist ihm ins Gesicht geschrieben. Auf die Frage, wie er hierher kam, antwortet er:

„Ich war mal Elektriker. Dann kam die Scheidung, der Alkohol, der Jobverlust – jetzt bin ich seit vier Jahren hier.“
– Markus, 47, obdachlos, substituiert mit Methadon

Nur wenige Meter weiter, eine junge Frau, kaum älter als 25. Ihre Stimme ist brüchig, sie zittert. Ihre Worte treffen mitten ins Herz:

„Meine Eltern wollten mich nicht mehr. Ich habe mit 16 angefangen zu kiffen, mit 19 war ich auf der Straße. Crack ist wie ein Monster, das nie satt wird.“
– Aylin, 26, seit acht Jahren drogenabhängig


Hilfe gibt es – doch sie reicht nicht

Sozialarbeiterinnen erleben täglich, wie komplex die Lebenslagen der Menschen an der „Tüte“ sind:

„Was wir hier erleben, ist nicht einfach Drogensucht. Es ist ein Zusammenbruch von Lebensläufen, oft ausgelöst durch Schulden, Krankheit, Gewalt oder Behördenversagen.“
– Sagt eine Streetworkerin

Zwar gibt es Angebote: Substitution, mobile Beratung, Spritzentausch. Doch sie reichen nicht aus – weder in ihrer Zahl noch in ihrer Tiefe. Therapieplätze sind rar, Wohnraum ist fast nicht zu bekommen, und das soziale Netz hat zu viele Löcher.


Auch die Anwohner kämpfen mit der Realität

Für viele Anwohnerinnen und Anwohner ist die Szene belastend – nicht aus Verachtung, sondern aus Sorge und Ohnmacht.

„Ich sehe jeden Tag Leute, die sich direkt an der Haltestelle einen Schuss setzen. Es macht Angst – aber es macht auch traurig.“
– Lisa M., 33, wohnt am Kesselbrink

Viele Bürger fühlen sich allein gelassen. Es fehle an sichtbaren Konzepten, an politischen Antworten – und an Mut, grundlegende Strukturen zu verändern.


Ein Hilfesystem am Limit

Was fehlt? Experten nennen seit Jahren dieselben Punkte: Housing First – also dauerhafter Wohnraum mit Betreuung –, mehr niedrigschwellige Suchthilfe, und vor allem: ganzheitliche Unterstützung, die mehr ist als kurzfristige Krisenhilfe.

„Man kann mich in eine Klinik stecken. Aber wenn ich nach drei Monaten wieder auf die Straße komme, fängt alles von vorn an.“
– Niko, 31, mehrfach therapierter Mehrfachabhängiger

Deutschland ist an einem Punkt angekommen, an dem bloßes Wegsehen nicht mehr möglich ist. Und doch geschieht genau das vielerorts.


Der Preis des Wegschauens

An einer grauen Betonwand in der Nähe der „Tüte“ steht in schwarzem Edding geschrieben:

„Wir sind nicht kaputt. Wir sind Menschen, die kaputtgemacht wurden.“

Ein Satz, der bleibt.


Was jetzt passieren muss

Die Lage erfordert mehr als warme Worte:

  • Wohnraum mit sozialer Begleitung, nicht nur Notschlafplätze.

  • Therapieplätze ohne monatelange Wartezeiten.

  • Konsumräume und Entzugsstationen, die erreichbar und sicher sind.

  • Mehr Personal in der Sozialarbeit, das nicht ausbrennt.

  • Und vor allem: ein gesellschaftliches Umdenken, das Betroffene nicht als „Zombies“, sondern als Menschen sieht.

Geschrieben von: stanley.dost

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Beitrags-Kommentare (1)

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  1. Andrea Aschmuteit am 29. Juli 2025

    Bielefeld im Schatten der „Tüte“: Das finde ich toll das ihr über so ein Thema berichtet und auch mal die Betroffenen befragt habt. Durch die Kommentare dieser Betroffenen kann man sich auch mal ein besseres Bild von der Situation machen und weiss was in deren Köpfen vorgeht und wie schwierig es ist da wieder rauszuholen. Vor allem wenn nicht mal langsam was passiert. Ich gebe auch schon mal gerne solchen Menschen eine Zigarette wenn sie mich danach fragen. In Lemgo und anderen Städten erlebt man ja auch solche Situationen wo diese Menschen in Mülleimern rumwühlen um vielleicht noch etwas essbares oder Zigaretten zu finden. Ich hatte mal so eine Situation wo eine Frau im Mülleimer nach Essen gesucht hat. Ich wollte ihr dann ein bißchen Geld geben damit sie sich was zu essen kaufen konnte. Das wollte sie aber noch nicht annehmen.
    Was ich ganz schlimm finde wenn andere Leute über solche Menschen urteilen und sie dann vielleicht auch noch verspotten. Das sind wahrscheinlich solche Leute die selber genug Geld haben und sich keine Sorgen machen müssen und sich deshalb auch garnicht in deren Lage hineinversetzen können. Der Bericht ist echt sehr authentisch und man kann sich gut in die Lage dieser betroffenen Menschen hineinversetzen. Topp👍