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today17. Juli 2025 4
Die wirtschaftliche und soziale Landschaft Ostwestfalens steht unter Schock: Eine Welle von Insolvenzen hat im ersten Quartal 2025 über 500 Insolvenzverfahren in der Region ausgelöst. In diesen ersten drei Monaten meldeten die Amtsgerichte so viele Pleiten wie seit neun Jahren nicht mehr – Nordrhein-Westfalen verzeichnete landesweit 1.572 beantragte Unternehmensinsolvenzen, ein Anstieg um 19,7 % gegenüber dem Vorjahr. Auch in Ostwestfalen-Lippe macht sich diese Entwicklung bemerkbar, wenn auch leicht unter dem landesweiten Schnitt. Schätzungsweise knapp 300 Betriebe in OWL mussten im ersten Quartal den Gang zum Insolvenzgericht antreten. Hinter diesen Zahlen stehen nicht nur gescheiterte Geschäftsmodelle, sondern Schicksale von Familien, Mitarbeitern und ganzen Gemeinwesen. Viele Traditionsunternehmen, aber auch gemeinnützige Einrichtungen, kämpfen ums Überleben – die soziale Betroffenheit ist enorm.
Die Statistik zeichnet ein düsteres Bild: Im ersten Quartal 2025 wurde in NRW der höchste Stand an Firmenpleiten seit 2016 erreicht. Besonders betroffen waren Branchen wie der Handel (inklusive Kfz-Werkstätten) mit 294 Insolvenzen (+22,5 % zum Vorjahr) und das Baugewerbe mit 274 Fällen (+16,1 %). Ostwestfalen blieb von diesem Trend nicht verschont. Zwar fiel der Anstieg in OWL etwas moderater aus als im Landesdurchschnitt, doch die absolute Zahl ist alarmierend: In Bielefeld, Gütersloh, Herford, Paderborn, Minden-Lübbecke und Höxter zusammengenommen registrierten die Gerichte weit über 500 Insolvenzeröffnungen in nur drei Monaten. Zum Vergleich: Im Vorjahreszeitraum waren es in diesen Kreisen etwa 520 Verfahren – ein leichter Anstieg, der jedoch die seit 2022 zu beobachtende Trendwende bestätigt (zuvor waren die Fallzahlen jahrelang rückläufig).
Noch gravierender sind die Folgen für Arbeitnehmer in der Region. Immer mehr Menschen verlieren durch Insolvenzen ihren Job. Die Zahl der Anträge auf Insolvenzgeld – einer Leistung, die Arbeitnehmern für ausfallende Löhne ihres insolventen Arbeitgebers zusteht – ist in OWL in drei Jahren um 87 % gestiegen, von rund 2.600 Fällen im Jahr 2022 auf aktuell knapp 5.000. Mit anderen Worten: Fast doppelt so viele Beschäftigte wie noch vor wenigen Jahren sind von Firmenzusammenbrüchen betroffen. Landesweit waren im ersten Quartal 2025 etwa 10.300 Beschäftigte in die Insolvenzen verwickelt – ein Drittel mehr als ein Jahr zuvor, wobei einzelne Großinsolvenzen in 2024 für extreme Ausschläge gesorgt hatten. In OWL sind die Zahlen etwas geringer gestiegen, doch die Angst unter den Arbeitnehmern geht um. Existenzen stehen auf dem Spiel, wenn plötzlich der Arbeitgeber zahlungsunfähig wird. Gewerkschaften und Arbeitsagenturen in der Region berichten von vollen Beratungsterminen; viele Betroffene wissen nicht, wie es weitergeht, wenn nach maximal drei Monaten Insolvenzgeld die Zukunft ungewiss bleibt.
Die Insolvenzwelle trifft Ostwestfalen mitten ins Mark – nicht nur wirtschaftlich, sondern auch sozial. Beispiel Wirtschaft: Gleich zu Jahresbeginn musste etwa der Möbelhersteller Gela-Form aus Herford Insolvenz anmelden, kurz nachdem er Ende 2024 noch einen Konkurrenten übernommen hatte. Über 30 Mitarbeitende bangen seither um ihre Zukunft. Wenige Wochen später, Ende Juni, die nächste Hiobsbotschaft: Die große Hammer-Markt-Kette Brüder Schlau aus Porta Westfalica rutschte in die Zahlungsunfähigkeit. Der traditionsreiche Raumausstatter-Konzern mit rund 180 Hammer-Filialen und 60 Schlau-Handwerkermärkten stellte einen Insolvenzantrag in Eigenverwaltung. Rund 3.900 Beschäftigte sind betroffen – ihre Arbeitsplätze stehen auf der Kippe. Viele von ihnen hatten die Nachricht kurz vor Gehaltstermin erhalten und mussten erfahren, dass fortan das Insolvenzgeld ihre Löhne sichern muss. „Es ist ein Schock. Wir wissen nicht, wie es weitergeht“, zitiert eine Mitarbeiterin, die anonym bleiben möchte. Die Brüder Schlau Gruppe, gegründet 1921 in Minden, ist somit ein weiteres Urgestein der OWL-Wirtschaft, das ins Wanken geriet.
Auch kleinere Familienbetriebe bleiben nicht verschont. In Paderborn meldete der Lebensmittelhersteller Stute Insolvenz an; in Bielefeld traf es das Traditionsunternehmen Umeta (Weltmarktführer für Abschmiertechnik); im Lipperland musste der Sonderpostenhändler Magowsky Filialen schließen. Diese Pleiten begannen zwar schon im vergangenen Jahr, doch setzen sich 2025 fort. Jeder dieser Fälle reißt Lücken in den Arbeitsmarkt der Region und hinterlässt verunsicherte Familien. Die IHK Ostwestfalen spricht von einer besorgniserregenden Entwicklung und mahnt vor Dominoeffekten, wenn Zulieferer und Dienstleister mit in den Strudel gezogen werden.
Besonders dramatisch aber sind die Folgen der Insolvenzwelle für den sozialen Zusammenhalt. Auch gemeinnützige Träger und Vereine geraten in Schieflage – Institutionen also, die keine profitorientierten Unternehmen sind, sondern oft das soziale Netz vor Ort knüpfen. Ein erschütterndes Beispiel lieferte bereits Ende 2023 die Arbeiterwohlfahrt Ostwestfalen-Lippe (AWO OWL): Der große Wohlfahrtsverband mit 4.300 Mitarbeitern und rund 120 Kitas musste im Oktober Insolvenz in Eigenverwaltung anmelden. „Wir haben einen Punkt erreicht, an dem unsere zunehmend schwierigere finanzielle Lage ein weitergehendes Handeln erforderlich macht“, erklärte AWO-Vorstand Thomas Euler damals resigniert. Zwar werden die Einrichtungen der AWO – von Kitas über Altenheime bis zu Beratungsstellen – vorerst weiterbetrieben, doch die Zukunft ist ungewiss. Für drei Monate konnten die Gehälter der Belegschaft durch Insolvenzgeld gesichert werden. Was danach kommt, lässt viele bange Fragen offen: Werden alle Kitas erhalten bleiben? Können Pflegebedürftige weiterhin versorgt werden? Die AWO-Insolvenz hat wie ein Beben die soziale Infrastruktur Ostwestfalens erschüttert.
Auch kleinere Vereine und soziale Initiativen spüren den finanziellen Druck. Zwar wurden bislang keine Tafeln (Lebensmittelausgabestellen für Bedürftige) in OWL geschlossen, doch die Tafeln schlagen Alarm: Die gestiegenen Energie- und Spritkosten, die wachsende Zahl an Hilfesuchenden und die angespannte Spendensituation bringen viele ehrenamtlich getragene Ausgabestellen an ihre Belastungsgrenze. „Wir stoßen an unsere Limits – finanziell und personell“, berichtet eine Helferin der Bielefelder Tafel. Noch halten die Tafeln in Ostwestfalen durch, oft nur dank zusätzlicher kommunaler Zuschüsse und der unbezahlten Mehrarbeit der Freiwilligen. Doch die Sorge ist groß, dass auch hier irgendwann die Insolvenz droht, falls keine Unterstützung kommt. Tafel Deutschland forderte jüngst eine “soziale Zeitenwende” und mehr Förderung, um der wachsenden Armut begegnen zu können. Die Vorstellung, dass ausgerechnet Tafeln – ein Notanker für die Ärmsten – aufgeben müssen, ist alarmierend. Es zeigt sich: Die Insolvenzwelle trifft die Schwächsten der Gesellschaft doppelt hart.
Ostwestfalen-Lippe erlebt aktuell einen Stresstest für Wirtschaft und Gesellschaft. Hinter den nüchternen Insolvenzzahlen verbergen sich zerplatzte Lebensträume – der Bäcker um die Ecke, der nach Jahrzehnten aufgibt; die alleinerziehende Verkäuferin, die plötzlich ohne Arbeit dasteht; die Ehrenamtlichen, die nicht wissen, ob ihr Verein nächstes Jahr noch existiert. Jede Insolvenz zieht Kreise: Gläubiger bleiben auf Rechnungen sitzen, Arbeitnehmer verlieren Einkommen, Kommunen entgehen Gewerbesteuern, und in Dörfern sowie Städten schließen vielleicht die letzten Treffpunkte.
Dennoch gibt es auch Zeichen der Solidarität und Hoffnung. In manchen Fällen springen Investoren ein oder es finden sich Rettungslösungen in letzter Minute – etwa wenn eine insolvente Arztpraxis von einem kommunalen Medizinischen Versorgungszentrum übernommen wird, um die Patientenversorgung zu sichern. Viele Betriebe versuchen durch Insolvenz in Eigenverwaltung einen Neuanfang und retten zumindest einen Teil der Arbeitsplätze. Die Politik in NRW hat Hilfsprogramme aufgelegt, und Wirtschaftsverbände fordern Entlastungen bei Energiepreisen und Bürokratie, um weitere Pleiten abzuwenden. Doch ob diese Maßnahmen schnell genug greifen, bleibt abzuwarten.
Für jetzt überwiegt die Betroffenheit in Ostwestfalen: Eine Unternehmerin aus Gütersloh fasst die Lage zusammen – mit Tränen in den Augen verabschiedete sie sich jüngst von ihren 15 Mitarbeitern, „die wie eine Familie für mich waren“, nachdem ihr kleines Logistikunternehmen zahlungsunfähig wurde. In den Zeitungsanzeigen häufen sich derzeit die Termine für Gläubigerversammlungen insolventer Firmen. Und gleichzeitig appellieren Sozialverbände an die Bevölkerung, die örtlichen Tafeln, Flüchtlingsinitiativen und gemeinnützigen Vereine nicht im Stich zu lassen.
„Die Insolvenzstatistik mag Zahlen nennen, aber sie zeigt nicht das menschliche Leid dahinter. Diese Welle an Pleiten ist keine anonyme Wirtschaftskrise – sie geht uns alle an“, mahnt ein Sprecher der Diakonie in OWL.
Ostwestfalen-Lippe steht vor der Aufgabe, gemeinsam Wege aus der Krise zu finden: durch Wirtschaftshilfen, durch Nachbarschaftshilfe, durch politische Weichenstellungen. Jeder gerettete Betrieb, jeder erhaltene Verein bedeutet, dass ein Stück Gemeinschaft bewahrt wird. Die aktuelle Insolvenzwelle ist ein Alarmsignal – wirtschaftlich und sozial. Doch in der solidarischen Unterstützung, die vielerorts spürbar ist, keimt auch Hoffnung: Ostwestfalen lässt sich nicht unterkriegen. Mit Zusammenhalt und rechtzeitiger Hilfe könnten künftige Hiobsbotschaften vielleicht verhindert werden, damit am Ende nicht noch mehr Lichter ausgehen in der Region.
Geschrieben von: stanley.dost
today29. September 2025
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