Deutschland

Therapieplätze Mangelware: Psychisch kranke Kinder warten monatelang auf Hilfe

today17. Juni 2025

Hintergrund
share close

Immer mehr Kinder und Jugendliche in Deutschland leiden unter psychischen Erkrankungen – doch die dringend benötigte Hilfe lässt oft auf sich warten. Viele Betroffene müssen bis zu einem halben Jahr auf einen Therapieplatz warten, auch wenn sie unter schweren Erkrankungen leiden. Expertinnen und Experten sprechen von einer dramatischen Versorgungslücke, berichten Medien.

Ein Beispiel ist Mia, ein 15-jähriges Mädchen aus Schleswig-Holstein. Sie leidet unter Angststörungen, Depressionen und Panikattacken. Ihre Mutter suchte jahrelang vergeblich nach einem Therapieplatz. Die wenigen Sitzungen, die Mia erhält – mal alle vier, mal alle acht Wochen – reichen bei weitem nicht aus. Ihr Zustand verschlechterte sich so weit, dass eine ambulante Therapie allein nicht mehr genügte.

Eine Studie der Universität Leipzig bestätigt: Mia ist kein Einzelfall. Kinder und Jugendliche warten im Schnitt sechs Monate auf eine leitliniengerechte Therapie. Studienautorin Kristin Rodney-Wolf warnt: „Wird in der Kindheit nicht behandelt, besteht ein hohes Risiko, dass psychische Erkrankungen chronisch werden. Weitere Störungen können hinzukommen.“

Die Versorgungssituation ist besonders im ambulanten Bereich angespannt – in ländlichen Regionen noch stärker. Nadine Scharenberg, Chefärztin der Kinder- und Jugendpsychiatrie am Westküstenklinikum Heide, berichtet: „Wir stehen mit dem Rücken zur Wand. Was wir auffangen sollen, übersteigt unsere Kapazitäten.“ Im gesamten Kreis Dithmarschen gibt es keinen einzigen niedergelassenen Kinder- und Jugendpsychiater.

Die Kassenärztliche Vereinigung Schleswig-Holstein (KVSH) hingegen gibt an, der Bedarf sei zu „über 100 Prozent gedeckt“. Wie passt das zusammen? Der Grund liegt im veralteten System der sogenannten Bedarfsplanung. Diese legt fest, wie viele Kassensitze es geben darf – also wie viele Ärzte und Therapeutinnen mit der gesetzlichen Krankenversicherung abrechnen dürfen. Doch dieses System orientiert sich noch immer an Zahlen aus den 1990er-Jahren und berücksichtigt Kinder und Jugendliche nicht gesondert.

Wissenschaftlerin Rodney-Wolf kritisiert diese Praxis als nicht mehr zeitgemäß: „Die Bedarfsplanung ist willkürlich und spiegelt den tatsächlichen Bedarf bei jungen Menschen nicht wider.“ Kinder- und Jugendpsychotherapeuten werden bei der Verteilung der Kassensitze nicht als eigene Gruppe berücksichtigt – eine gesonderte Quote gibt es nicht.

Um diese Lücke zu schließen, müsste das Sozialgesetzbuch angepasst werden. Der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA), das oberste Gremium im Gesundheitswesen, hat sich in einer Stellungnahme bereits für eine Reform ausgesprochen. Auch der Koalitionsvertrag der Bundesregierung sieht eine Verbesserung der Versorgung für junge Menschen und im ländlichen Raum vor. Doch konkrete Schritte fehlen bislang. Eine Anfrage des NDR an das Bundesgesundheitsministerium blieb unbeantwortet.

Während sich in der Politik wenig bewegt, wächst der Druck auf Familien, Kliniken und Kinder – die mit ihrer Not allzu oft allein bleiben.

Geschrieben von: Florian Jäger

Rate it

Beitrags-Kommentare (0)

Hinterlassen Sie eine Antwort

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Pflichtfelder sind mit * gekennzeichnet