Europa

Frontalangriff auf Freiheit und Vielfalt: Ungarns Regierung schaltet LGBTQ-Rechte per Verfassung aus

today16. April 2025

Hintergrund
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Ein Gesetzespaket wie aus der Zeit gefallen

Ungarn schreibt erneut ein düsteres Kapitel in seiner Verfassungsgeschichte: Mit der 15. Änderung des Grundgesetzes hat das ungarische Parlament unter der Führung von Viktor Orbans rechtsnationalistischer Fidesz-Koalition LGBTQ-Rechte weiter massiv eingeschränkt. Veranstaltungen wie Pride-Paraden können künftig verboten werden – mit Verweis auf einen angeblichen „Kinderschutz“. Ein durchschaubarer Vorwand, sagen Kritiker. Denn in Wahrheit geht es um Kontrolle, Ausgrenzung und die systematische Demontage von Grundrechten.


Verfassungsänderung mit ideologischem Vorschlaghammer

Die neue Regelung definiert das Geschlecht eines Menschen ausschließlich binär – männlich oder weiblich, basierend allein auf biologischen Merkmalen bei der Geburt. Trans-, intersexuelle und non-binäre Menschen werden damit nicht nur ignoriert, sondern aus der Gesellschaft gedrängt. Ihre Existenz wird nun offiziell geleugnet, ihre Identität quasi ausgelöscht – und das auf Verfassungsebene. Eine Entmenschlichung per Federstrich.


„Schutz“ der Kinder als politisches Kampfwerkzeug

Der perfide Clou: Die Regierung erhebt den „seelischen und moralischen Schutz“ von Kindern zum Grundrecht mit Vorrang vor fast allen anderen – inklusive der Versammlungsfreiheit. Das Resultat? Kritische Demonstrationen, besonders solche aus der LGBTQ-Community, können künftig untersagt, verboten und kriminalisiert werden. Die Budapester Pride steht nun auf der Abschussliste – organisiertem Widerstand drohen Strafen und Polizeikontrolle mit einer Gesichtserkennungssoftware.


Recht auf Protest? Ausgesetzt. Staatsbürgerschaft? Ausgesetzt. Menschenwürde? Ausgesetzt.

Doch die Liste der Rückschritte endet nicht bei den Geschlechterfragen: Die Orban-Regierung verpasst sich selbst mit der Verfassungsänderung weitreichende neue Befugnisse. Dazu gehört auch die Möglichkeit, ungarischen Doppelstaatlern die Staatsbürgerschaft temporär zu entziehen – ohne gerichtliche Kontrolle, ohne Beweise. Was als autoritäres Wunschdenken begann, ist nun Gesetz. Die Tür für politisch motivierte Verfolgung steht damit offen.


Opposition protestiert – Orban bleibt ungerührt

Zwar ertönten während der Abstimmung Protesttöne und Demonstranten skandierten „Versammlungsfreiheit ist Grundrecht“, doch Orban zeigte sich erwartungsgemäß unbeeindruckt. Die Zwei-Drittel-Mehrheit seiner Partei ließ keine Zweifel zu: Die kritischen Stimmen der Opposition, Menschenrechtler und Aktivisten verhallten ungehört im Lärm der Machtdemonstration. Die Stadt Budapest, sonst Sinnbild für Offenheit, wurde am Montag zum Schauplatz für Polizeieinsätze und Sitzblockaden.


Reaktionen: Empörung, Wut, Hilflosigkeit

David Vig, Direktor von Amnesty International Ungarn, nannte es einen „Frontalangriff auf die LGBTQIA+-Community“ und entlarvte die „Kinderschutz“-Rhetorik als reine Homophobie. Weitere NGOs warnen vor einer Gleichsetzung von Homosexualität mit Pädophilie – ein gezielter Versuch, Ressentiments zu schüren – und ein Vorurteil, dass sich hartnäckig in rechten und konservativen Kreisen hält. Auch Rechtsexperten halten die Eingriffe in das Versammlungs- und Rederecht für klar verfassungswidrig und setzen ihre Hoffnung nun auf die EU-Kommission. Doch der politische Wille aus Brüssel ist bislang ebenso zögerlich wie wirkungslos.

Verstoß gegen EU-Normen

Die neue Gesetzgebung Ungarns steht in eklatantem Widerspruch zu fundamentalen Prinzipien der Europäischen Union. Insbesondere der Eingriff in die Versammlungsfreiheit, die gezielte Diskriminierung von LGBTQIA+-Personen und die Einschränkung der Meinungsfreiheit verstoßen gegen die Charta der Grundrechte der EU, die in Artikel 21 ein Diskriminierungsverbot wegen sexueller Orientierung garantiert. Auch die Aberkennung von Staatsbürgerschaften ohne rechtstaatliche Verfahren verletzt zentrale EU-Rechtsnormen. Rechtsexperten fordern daher ein Vertragsverletzungsverfahren – denn die Orbán-Regierung bricht nicht nur Menschenrechte, sie stellt die Wertegemeinschaft Europas offen infrage.

Ein autoritärer Umbau unter dem Deckmantel der Moral

Die Maßnahmen in Ungarn sind kein isolierter Ausrutscher, sondern Teil eines jahrelangen, strategischen Angriffs auf liberale Werte. Bereits 2020 wurde in der ungarischen Verfassung verankert, dass eine Mutter nur eine Frau und ein Vater nur ein Mann sein könne. Gleichgeschlechtliche Paare dürfen keine Kinder adoptieren, Minderjährige haben keinen Zugang zu Medieninhalten, die alternative Lebensmodelle zeigen. Nun folgt das gesetzlich verordnete Schweigen.


„Schmutzige Zeiten“ – ein Songtext als bitteres Fazit

Was bleibt? Ein Land, dessen Regierung mit jeder neuen Gesetzesänderung weiter zurück ins autoritäre Zeitalter marschiert, das eigentlich spätestens seit dem Ende des 2. Weltkriegs vorbei war.
Ein ungarisches Grundgesetz, das jetzt zur politischen Waffe verkommt. Und eine Gesellschaft, die gespalten wird – durch Angst, Zensur und Diskriminierung. Die umbenannte „Gray Parade“ der Protestierenden am letzten Wochenende war mehr als nur ein symbolischer Akt: Sie war ein stiller Schrei gegen eine Politik, die mit aller Macht das Bunte auslöschen will.

Geschrieben von: Dirk Lankow

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